Die mündliche okzitanische Tradition

Die mündliche okzitanische Tradition

Bis in die Gegenwart hinein sind im okzitanischen Raum Volkslieder, Sagen, Sprichwörter und andere volksliterarische Zeugnisse in der
mündlichen Überlieferung lebendig geblieben. Nachdem sie schon im 19. Jahrhundert zum größten Teil gesammelt worden sind, wie von Montel und Lambert für den Languedoc, von Félix Arnaudin für die Grande Lande, von Jean-François Bladé für die Gascogne und das Agenais, oder von Damase Arbaud für die Provence, werden die verbliebenen Zeugnisse jetzt mit den modernsten technischen Mitteln aufgenommen und archiviert.

In zahlreichen Ursprungssagen kommt ein Riese vor, oft heißt er
„Gargantua“. Wie überall fi ndet man aber auch Erzählungen, die sich
auf Landschaft und Geschichte eines bestimmten Ortes beziehen, wo
ein Kalb oder eine Ziege aus Gold wundertätige Quellen, versunkene
Schätze oder versteckte Gänge die zu Schlössern führen, entdecken.
Andere Erzählungen gehen von Höhlen aus, die den Landbewohnern
als Zufl ucht gedient haben, oder von Glocken, die in Untiefen
versenkt worden sind.

Das erhaltene Liedergut ist sehr vielfältig, wir finden dort Volks- und
Klagelieder, die häufig auf Sagen beruhen, dazu Arbeits- und
Tanzlieder, Weihnachtslieder und Parodien religiöser Gesänge. Aus
dem 19. Jahrhundert stammen viele Lieder, die die Heimatgegenden
besingen. Dazu kommen dann noch Kinderreime, Hochzeitslieder und
jede Art von obszönen Gesängen.

Wir finden auch jede Art von Sagen: Wundersagen (Der Bärenhans)
und fantastische (Sagen vom Teufel), Tiersagen (Wolf und Fuchs, Der
halbe Hahn…), religiöse Sagen und Schwänke (Der dumme Hans…)
Dazu kommen in allen okzitanischen Landschaften Erzählungen von
Wölfen und Widergängern, Hexen und Feen, von des Teufels Sohn
und seiner Großmutter.

Die Hexenmeister, mit den okzitanischen Namen emmascaires,
devinhas, empatufaires, sorcelors oder fusica bezeichnet, sind immer
noch da, aber glücklicherweise kennt man noch die Gesten und die
Sprüche, um sich vor ihnen zu schützen, mit einer umgewendeten
Jacke, oder einer, die mit einem Brett durchgeklopft wird, mit
einem ausgerissenen Kohlstrunk oder mit rostigen Nägel, die
gekocht werden…

So viel als erste kurze Information über den Reichtum der
mündlichen Überlieferung, die vor noch nicht allzu langer Zeit bei
den verschiedensten Zusammenkünften lebendig war. Oft endeten
diese Geschichten mit einer ritualisierten Schlussformel:

E cric e crac, mon conte es acabat ! Und cric und crac, es ist
vollbracht.

Christian-Pierre Bedel,
Direktor des Institut Occitan de l’Aveyron

 
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